Die Sonntagspredigt vom 13. Juli 1997

Arthur Heilmann (Theologe):

Reisen

"Im Grunde reist man am besten, indem man fühlt."

Fernando Pessoa

 

Sind Sie Reisender? fragt das staunende Mädchen den Fremden in einem Spielfilm.

Welch schöne, und zugleich beängstigende Vorstellung, Reisender zu sein! Ohne festen Wohnsitz, ohne Wurzeln sogar, ohne bewährte, gute Freunde, die man jederzeit besuchen kann. Aber frei! Nicht nach Hause müssen, keiner geregelten Arbeit nachgehen, jeden Tag woanders sein. Interessante Menschen treffen in den Großstädten der Welt. Freie Liebesaffairen statt langwieriger Beziehungskiste. Dschungelabenteuer und aufregende Situationen in fremden Gebieten.

Das Reisen weckt Sehnsüchte und Ängste gleichermaßen. Wer sich tatsächlich für eine Reise entscheidet, oder den Beruf des Reisenden wählt, hat zunächst einige Vorbereitungen zu treffen. Selbst, wenn er wenig mitnimmt, braucht er doch ein paar Dinge: seinen Ausweis, Geld, vielleicht noch eine Zahnbürste, Landkarten, Lektüre, ein Notizbuch etc. Dann stellt sich ihm die Frage - wie, und als wer gehe ich fort von hier? Vielleicht möchte er sich von Freunden und Verwandten verabschieden, einen Job kündigen, ein Auto verkaufen, eine Wohnung aufgeben. Wer weiß - er könnte vielleicht nicht wiederkommen - irgendwo sein Glück finden, oder irgendwo seinen Tod?

Eine Reise ist ein Aufbruch ins Ungewisse.

Wenn wir jetzt unsere inneren Reisen betrachten, verhält es sich ähnlich. Wir entscheiden uns, die Reise anzutreten. Nehmen wir z.B. den Schlaf. Wir schließen die Augen, löschen das Licht, wünschen unserem Partner eine gute Nacht. Jetzt sind wir allein auf unserer Reise. Wir reisen in unsere Träume durch die Zeitebenen. In sie hinein und über sie hinaus. Und die nächste Reise, der nächste Traum. Der Ausgang der Reise ist ganz ungewiß. Kommen wir zurück? Wachen wir wieder auf, und als wer? Haben wir uns verändert auf unserer Reise?

Wenn wir uns selbst erforschen, begeben wir uns auf eine besondere Reise. Wir entscheiden uns für den Weg, manchmal auf für Weggefährten. Aber die Reise in uns selbst machen wir alleine. Wir begegnen uns in anderen Zeiten, anderen Räumen. Wir machen schmerzliche und schöne Erfahrungen. Wir bleiben an einer Stelle und lassen uns vielleicht hier nieder. Wir gehen weiter, immer weiter, bis uns die Natur des Reisenden zur ersten Natur wird. Wir werden ruhig, wir betrachten, wir verstehen. Reisen bildet - heißt es so oft. Jede Reise, wohin auch immer, nach Innen oder Außen, wird dazu dienen, uns zu bilden, zu formen. Das heißt - Sehen, Verstehen und Anerkennen.

Laßt uns die Vorbereitungen treffen, den Weg bestimmen, die Mittel und das Ziel. Und wenn unser Ziel unbekannt ist, dann laßt uns ins Unbekannte hineingehen.