Die Sonntagspredigt vom 6. Juli 1997

Arthur Heilmann (Theologe):

Schuld und Verantwortung

Liebe Freunde,

 

Wer ist schuld? Fragen wir uns. Nach einem Streit in der Partnerschaft, in einer Krankheitsphase, nach einem Verkehrsunfall, nach Raub - und Mordfällen, Zeitungsschlagzeilen, Scheidungen und anderen Katastrophen.

Unser Kind ist schlecht in der Schule. Wer ist schuld? Unser älteres Kind ist drogenabhängig, selbstmordgefährdet, liebeskrank, konsumgierig. Wer ist schuld? Lehrer sagen: die Eltern. Eltern sagen: die Gesellschaft. Kinder sagen: das Fernsehen. Wer ist das denn, die Eltern, die Gesellschaft, das Fernsehen, die Deutschen, die Skinheads, die Juden, der Hitler, die Ayatollahs, die RAF usw., die Bösen, die Guten? Wer ist denn nun schuld?

Wir alle kennen die vagen Schuldgefühle, die uns anfliegen wie lästige Insekten. Wenn wir krank sind oder unglücklich - wenn uns etwas weggenommen wird, wenn wir uns erniedrigt, ausgesaugt oder emotional in die Ecke getrieben fühlen. Etwas nagt und zerrt an uns. Wer ist schuld? Bin ich etwa selbst schuld? Das fühlt sich bitter an.... . Ich habe mir das bieten lassen, diese Gemeinheiten und Grobheiten, diese Krankheiten und Desaster.....Das alles kommt davon, daß ich zu schwach bin oder zu gut......Wer sich wie ein Bettvorleger verhält, braucht sich nicht zu wundern, wenn er getreten wird.....

Diese Schuldzuweisungen lähmen uns. Uns selbst und anderen gegenüber. Die Mutter will etwas, ein Freund ist in Not, Menschen bedrängen uns. Wir haben Nein gesagt, aber zu welchem Preis! Wir haben Ja gesagt, aber wir sind der Bitte unserer Mitmenschen nur halbherzig entgegengekommen - wir haben das von uns Geforderte nicht wirklich gerne getan. Wir haben uns nicht klar geäußert, weil wir Angst hatten vor den Konsequenzen. Wir wollten nicht schuld sein und wir kommen vielleicht zu dem Schluß: keiner ist schuld - dennoch quälen die Schuldgefühle.

Ich will schuld sein - so der Titel eines Lyrikbands von Maria Erlenberger. Ist das vielleicht die Lösung, den Schuldgefühlen zu entkommen - den Schuldzuweisungen? Entweder wir fühlen uns schuldig oder wir geben den anderen die Schuld. Beides ist beengend und belastend. !Ich will schuld sein! Das hört sich ganz mutig an, bloß, wie können wir damit leben? Können wir tatsächlich schuld sein an dem allen? Und wieder wehren wir uns: Die anderen sind schließlich selbst schuld an Ihrem Unglück! Ja. Aber sind sie es auch an meinem, an unserem?

Charismatische Führer und Demagogen haben das Dilemma erkannt und arbeiten damit. Jeder von uns kennt Hitlers Reden vor dem Volk, und wir fragen uns: Wie konnte das geschehen, diese einhellige Zustimmung und Begeisterung? Laßt uns erforschen, mit welchen Techniken ein Hitler arbeitet. Zuerst erkennt er die Defizite. Den Menschen geht es nicht gut, etwas fehlt ihnen. Arbeit, Wohlstand, viele Dinge. Dann weist er sie darauf hin, daß sie nicht selbst schuld sind an ihrer Misere, sondern die anderen, die Juden, die anderen Nationen, die sich bereichern auf Volkes Kosten. Und etwas geschieht. Die Menschen fühlen sich als Opfer angesprochen. Ab hier haben sie keine Verantwortung mehr. Ein energetischer Vorgang setzt ein! Sie haben einen Schuldigen gefunden, aber ihre eigene kraftvolle Energie, ihren eigenen Willen an ihn abgetreten. Er hat jetzt die Verantwortung, aber auch die Energie, die er nützen kann für seine Zwecke. Die Begeisterung geht dorthin, wo die Energie ist.

Wenn wir unseren Willen und unsere Macht an jemand anderen abgeben, verlieren wir an unserem Willen und an unserer Macht. Durch die Schuldzuweisung haben wir uns zwar unserer Verantwortung, aber auch unserer Macht entledigt. Wir sind nicht mehr unser starkes, kreatives Selbst, wir sind Opfer.

Laßt uns wieder die Verantwortung übernehmen für unsere Gedanken und Taten! Wenn wir geradestehen für das, was wir sagen und tun, geben wir uns unsere Macht zurück. Wir sagen: Ja, ich habe es getan! - und sind bereit, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und laßt uns noch eine Entdeckung machen auf diesem Weg: unsere Entscheidung, verantwortlich zu sein, nährt unsere Selbstachtung. Und weil wir uns selbst achten, sind wir auch bereit, andere Menschen zu achten.